Der Camino. Endlose Weite, flaches Terrain und oft genug eine Bar in Reichweite. Das sind einige der Gründe, weshalb ich am liebsten zu Fuß auf der iberischen Halbinsel unterwegs bin. Gern wochenlang. Denn der Laufrhythmus ist ein anderer, geht in Arme, Beine und Gedanken über, wenn die ersten hundert Kilometer hinter mir liegen und die Füße den anfänglichen Rost des Großstadtlebens hinter sich gelassen haben.
Doch als die Jakobswege mit jedem Jahr populärer und voller wurden, begann ich mich nach Alternativen umzusehen, nach Wegen, auf denen man noch weitgehend allein unterwegs sein kann. In erreichbarer Nähe kamen für mich nur die Alpen in Frage. Zwar bevorzuge ich für weite Wanderungen wie bereits erwähnt die Ebene, aber an Wildheit und Einsamkeit ist das Hochgebirge, zumindest in Europa, kaum zu überbieten.
Auch einige der Alpenüberquerungen sind mittlerweile populäre Wander-Autobahnen geworden, auf denen sich während der kurzen Alpenüberquerer-Saison Schlangen bilden wie am Gipfel des Everest. Ich wählte daher eine relativ junge Route über die Ostalpen, durch Deutschland, Österreich, Slowenien und Italien. In 30 Tagen sollte mich dieser Weg ans Mittelmeer bringen, von Salzburg nach Triest.
Als ich beschloss über die Alpen zu laufen, hatte ich keinerlei Idee, später ein Album mit Songs aufzunehmen, die von dieser Wanderung inspiriert sind, oder gar meine täglichen Notizen zu veröffentlichen. Ich war froh, als ich überhaupt ein Zeitfenster für die Tour gefunden hatte. Und unterwegs ging es eher darum, jeden Tag zu bewältigen, als das Ganze bereits in Kunstform zu visionieren. Die An- und Abstiege waren für mich zudem oft so anstrengend, dass ich überhaupt keinen freien Kopf für Kreativität hatte, weil ich mich so auf das Durchhalten konzentrieren musste.
Die paar Songideen die ich unterwegs hatte, keuchte ich als Voicememo ins Handy.
Nach der Wanderung hatte ich dann vor einem Festivalauftritt in Luzern ein paar Tage Zeit mich in der Züricher Wohnung eines Freundes zu erholen. Hier entstanden innerhalb von zwei oder drei Tagen die meisten der Songs auf meinem Album “Into the Mountains”. Und da diese in eher groben Zügen meine Überquerung der Berge nachzeichnen, gibt es dazu nun auch mein Reisetagebuch “Über die Alpen”. Wer möchte, kann so tiefer in die Erfahrungen und Erlebnisse eintauchen, die zu den Songs geführt haben.
Das Buch “Über die Alpen” und das Album “Into the Mountains” sind erhältlich auf www.tobiaspanwitz.de
Auszug aus dem Buch
Wenn im Gemeinschaftsschlafraum eines Hostels mal keiner schnarcht, bedeutet das noch lange nicht, dass man ungestört schlafen kann. Irgendwer macht ominöse Raschelgeräusche, Handys summen, die Koreanerin im Bett unter meinem schreit im Schlaf auf. Mit über 40 bin ich dünnhäutiger geworden, was Geräusche angeht und gehöre einfach nicht mehr zum klassischen Hostel-Klientel. Na gut, erste Nacht, geschenkt, denke ich. Doch vor mir liegen zum Großteil Hüttenübernachtungen mit Bettenlagern, keine guten Aussichten für Geräuschempfindliche wie mich.
Ich lasse Mönchsberg und Festung Hohensalzburg hinter mir und laufe über eine weite Ebene am Almkanal entlang Richtung Unterberg. Vom Königssee kommend ist der Kanal das Wasser- und Energieversorgungssystem Salzburgs und das älteste seiner Art in Mitteleuropa. Nach viel sieht der Kanal nicht aus, wie er hier in seinem Betonbecken dahinfließt. Aber das Wasser ist kühl und klar. Am liebsten würde ich hineinspringen. Doch mein preußisches Wanderethos hält mich vom Pausieren ab. Ein paar Österreicher, schon immer entspannter als meine Landsleute, machen es richtig und reiten mit ihren Surfbrettern eine Stufenwelle im Kanal.
Aprikosen und Franzbrötchen im Dorfkonsum von Grödig. Leider nichts zu sehen vom sagenumwobenen österreichischen Gebäck. Wasserreserven auffüllen und weiter bis Glanegg. Ab hier geht es in den Wald und bergauf. Eine Weile lang schenken die Bäume Schatten, dann treffe ich auf die ersten Himmelsleitern. Ein Euphemismus, der sich zwar korrekterweise auf die Richtung der Leitern bezieht, nicht aber auf die Qualität des Erlebnisses. Denn wenn Leitern nötig sind um einen Berg zu besteigen, dann sagt das einiges über die Hangneigung aus. Ich mühe mich von einer Sprosse zur nächsten. Die Lungen pumpen. Einziger Weg das hier durchzustehen ist langsam zu gehen. Irgendwann steige ich nur noch in Zeitlupe hinauf. So geht’s. Nach zehn Stufen Pause. Weiter. Auf halber Höhe ein sagenhafter Blick auf Salzburg – die Festung bereits zu einer Winzigkeit geschrumpft. Kaum zu glauben, wie weit ich an einem Vormittag gekommen bin.
Nicht schlecht, gleich am ersten Tag hier aus der Kalten an den Leitern die tausend Höhenmeter hoch, denke ich und lasse mich erschöpft auf den Boden fallen. Trainiert habe ich für diese Tour nicht. Gehmuskeln bekommt man schließlich beim Gehen. Die Sonne knallt, das Rauschen der Stadt ist fast verflogen. Einheimische springen mit Tagesrucksäcken an mir vorbei die Leitern hoch zum Gipfel, passieren mich zwei Stunden später wieder auf ihrem Weg nach unten. Eine Frau zeigt mir eine Gams in zehn Metern Entfernung. Fast hätte ich die übersehen vor lauter Erschöpfung.
Aus dem Wald hinaus geht es in die senkrechte Wand. Stiegen und in den Fels gehauene Stufen. Mann, ist das schwer, fluche ich bei jedem Schritt, und keuche mich weiter hinauf, der Abgrund zwanzig Zentimeter neben mir. Plötzlich bin ich oben. Ein hölzernes Kreuz auf einem Betonsockel. Für ein Selbstauslöserbild will ich schnell auf den Sockel springen und verrenke mir dabei den Rücken. Zum Schnell-auf-Betonsockel-springen-Klientel gehöre ich wohl auch nicht mehr. Kurz darauf bin ich am Zeppezauerhaus.
Aus Graus vor zerschnarchten Nächten hatte ich ursprünglich überlegt, die Tour mit Zelt zu machen. Abgesehen davon, dass die Route durch mehrere Nationalparks führt und die Biwak-Erlaubnis auf dem Rest der Strecke schwammig ist, bin ich jedoch spätestens nach der Tortur an den Himmelsleitern froh, mich gegen die Zeltvariante entschieden zu haben und nicht mehr als nötig tragen zu müssen. Die Hüttenübernachtungen werden halt ein gutes Training in Sachen Akzeptanz des Unvermeidlichen sein.
Außer mir ist kaum jemand hier. Wie auf den meisten Hütten gibt es Zimmer und Bettenlager. Im Bettenlager, so weiß ich, lauert der Schnarcher. Doch der Wirt hat Verständnis und gibt mir ein Doppelzimmer zum Lagerpreis. Sofort fühle ich mich zu Hause. Von der Wasserknappheit erfahre ich leider erst, nachdem ich bereits ausgiebig meine Wäsche gewaschen habe. Regen falle kaum. Und zudem habe es in einer Höhle im Trinkwassergebiet einen Suizid gegeben, erzählt der Wirt. Normalerweise filtere der Berg alle üblen Keime aus den Bächen. Und ein paar davon bräuchten wir ja auch, für die natürliche Abwehr. Aber als irgendwann Haarbüschel in der Wasserleitung geschwommen seien und man wenig später einen aufgedunsenen Körper gefunden hätte, habe man das Trinkwasserreservoir dann doch gesperrt.
Auf der Hütte gibt es zwei Tibetaner als Saison-Gehilfen. Wenn sie nicht in Gebetsgesänge vertieft sind, bemannen die beiden in österreichisch-tibetanischem Kauderwelsch Rezeption und Essenausgabe. Ich lasse mir scheinbar etwas zu lange Zeit mit der Bestellung, denn sofort ruft mir einer der beiden vom Ausschank her zu: „Essen!“ Während ich noch unschlüssig vor der angeschlagenen Speisekarte stehe, stellt er sicher, dass ich ihn verstanden habe, in dem er die Hand zum Mund führt. Wie beim Erstkontakt mit einer fremden Zivilisation. Ich bestelle erstmal Gletscherwasser, eine Art Himbeerlimonade und zause Hütten-Schäferhund Cäsar die Ohren.
Am Abend steht die Sonne über den blauen Schatten der Berge. Vor mir breitet sich noch einmal der ganze Tag aus: der Salzburger Bahnhof, der Mönchsberg, die Festung und dahinter, bis weit nach Deutschland hinein, eine endlose Ebene von Feldern, Wäldern und Hügeln. Ein panisches Brummen stört den Abendfrieden, als vor meinen Stiefeln eine Biene von einer riesigen Ameise festgehalten wird. Ich schnippe die Ameise weg und die Biene summt direkt zur nächsten Blüte.
Es ist Abendbrotszeit und von den Tischen her klingt klapperndes Besteck, das Geplauder der Tageswanderer und der Singsang der zwei Tibetaner. Außer mir gibt es noch einen weiteren Alpenüberquerer, Fred aus Nürnberg. Gute sechzig, drahtig, die weißen Haare zum Zopf gebunden. Der steckt mich als Schreibtischberliner nach den ersten Metern morgen in die Tasche, denke ich. Einen Tag voraus sei uns eine junge Frau, erzählt der Wirt, die allein mit ihrem Hund die Alpen überquere. Hut ab, denken wir und stoßen mit Gletscherwasser auf die kommenden Wochen an.
Das komplette Buch zu meiner Alpenüberquerung „Über die Alpen – In 30 Tagen von Salzburg nach Triest“ ist erhältlich auf www.tobiaspanwitz.de.
Tobias „Trailhead“ Panwitz ist Folkmusiker, Songschreiber und Vollblutwanderer. Er ist auch waschechter Berliner, der sich jedoch immer wieder in allen möglichen Ecken der Welt herumtreibt. Das Zu-Fuß-Gehen ist immer wieder Thema in seiner Musik. Auf seinem ersten Album „Road to Salamanca“ (2009) hat er seine Pilgerreise auf der Via de la Plata vertont und ist seither viele Kilometer auf Wanderwegen weltweit unterwegs gewesen.
Sein aktuelles Album ist ein ganz besonderes Projekt: In den Songs auf „Into The Mountains“ verarbeitet Tobias die Erfahrungen und Erlebnisse auf seiner Alpenüberquerung. Begleitend zur Musik hat Tobias seinen Weg über die Alpen als Reisebericht in seinem Buch „Über die Alpen“ veröffentlicht.