oder Warum es herrlich ist, als eine der letzten ins Ziel zu kommen
Meine größte Angst beim Halbmarathon in Berlin war nicht, dass ich irgendwie kaputtgehen und es deshalb nicht schaffen könnte. Durch die vielen langen Wandertouren sind mein Körper und ich ein ziemlich gutes Team und ich und er wissen, wie es sich anfühlt, an unsere gemeinsamen Grenzen zu gehen. Tausende Kilometer auf verschiedensten Wanderpfaden haben mich auch ein Naturgesetz gelehrt, das immer wahr ist: Die letzten Kilometer sind einfach scheiße. Egal, wie viele du vorher gewandert bist.
Mit diesem kostbaren Wissen, dessen Wahrheitsgehalt ich schon so häufig getestet habe, bin ich auch in meinen ersten Halbmarathon in Berlin gestartet. Und wie bereits erwähnt galten meine Bedenken nicht dem ewigen KnieFußHüfteBein-Geschwächel, sondern vielmehr meiner Wohlfühlgeschwindigkeit, die irgendwo zwischen Schnecke und Schildkröte liegt. Gemütliche 9:00 min/km sind für den Halbmarathon in Berlin eine echt knappe Kiste. Denn wie bei jeder großen Laufveranstaltung gibt es auch hier den berüchtigten Besenwagen. Dieser kehrt nach spätestens 3 Stunden und 15 Minuten nicht die vielen leeren Wasserbecher von den Hauptstadtstraßen, sondern die Kranken und Versehrten, die die 21,0975 km nicht zu Fuß zu Ende bringen können.
Mit dem Besenwagen im Hinterkopf startete ich das Rennen gleich mal 30 Sekunden schneller als meine eigentliche Schildkrötendurchschnittszeit und hielt auch super bis Kilometer 12 durch. Kurz nach dem Jubel meiner am Ku´damm versammelten Familie ging es dann (leider nur) sprichwörtlich bergab.
Das Feld um mich hatte sich schon nach einem Viertel der Strecke merklich gelichtet und auch wenn ich nicht ganz allein unterwegs war, so waren doch beachtliche Lücken zwischen den einzelnen Schlussfeldläufer:innen. Wer jetzt denkt, dass mich das irgendwie betrübt hätte, liegt ziemlich falsch. Denn eigentlich ist es herrlich, als eine der letzten auf der Strecke zu sein. Warum?
- Kein Gedränge an den Versorgungsständen. Relativ entspannt ein Schlückchen Wasser trinken, sich durch das ganze klebrige Sortiment an Nahrungsergänzungsgels probieren und von jedem Helfenden ein ganz persönliches Lächeln.
- Qualität statt Quantität beim Anfeuern. Die Leute am Straßenrand, die auch nach der Spitzengruppe, den ambitionierten Hobbyläufer:innen und dem Mittelfeld noch an der Strecke stehen bleiben und für die Langsamen und Krummen ihre Tambourine schwingen, sind die echten Held:innen des Halbmarathons in Berlin.
- Namentliche Erwähnung. Dadurch, dass nicht nur das Anfeuerteam gegen Ende des Laufes ein wenig ausdünnt, sondern vor allem weil die Laufenden eher kleckerweise über die Straßen schlurfen, wird man immer wieder höchst personalisiert direkt mit dem Vornamen angefeuert. Dieser ist nämlich gut lesbar auf dem Startnummernschild aufgedruckt, das man sich an den Bauch bindet.
- Private Fotosession. Unterwegs sitzen, stehen und liegen immer wieder Menschen mit großen Kameras am Wegesrand – die Veranstaltungsfotograf:innen. Diese hat man als Schlusslicht fast ganz für sich allein und kommt somit zu einer beachtlichen Anzahl an Wettkampf-Fotos auf denen man, mehr oder weniger gut getroffen, im Fokus ist. Bei mir sind es ganze 88 geworden. Im Vergleich: Meine Mittelfeld-Freundinnen hatten so um die 30 Bilder zur Auswahl, auf denen sie mal irgendwo hinter einem anderen Teilnehmenden hervorlugten.
- Der Zieleinlauf. Da kommt dann alles zusammen. Die letzten Kilometer des Halbmarathons in Berlin führen ein wenig über Nebenstraßen und Hintergassen, bevor man um die Ecke biegt und einem schon in der Kurve eine Schwall von Stimmen und Rufen entgegenschallt. Die übriggebliebenen Zuschauer:innen haben sich hier konzentriert und mir kam es vor, als würde ich in das vollbesetzte Olympiastadion einlaufen. Unter lauten ‘Anne! Anne!’-Rufen wildfremder Menschen, schob ich mich Schrittchen für Schrittchen durch das Brandenburger Tor und über die Ziellinie. Da ich schon immer recht nah am Wasser gebaut bin, lief ich die letzten Meter nicht nur mit Kloß im Hals, sondern auch Tränenbächen über meinen verschwitzten Wangen.
Nach 3 Stunden 9 Minuten und 26 Sekunden beendete ich meinen ersten Halbmarathon und nahm leicht verdattert und noch immer schluchzend meine Medaille entgegen. Ich hatte es geschafft – ich war dem Besenwagen davon gelaufen.
Ganz fantastische Leistung! Ich bin sehr stolz auf dich. Bei meinem ersten Mammutmarsch war es für mich nicht leicht damit umzugehen, dass mich alle überholt haben. Aber nur so konnte ich mein Training und meinen Fokus anpassen. Und natürlich hat man die gleichen Vorteile am VP wie du sie beschrieben hast. Alles Liebe ♥️
Glückwunsch!
Hallo, schau mal in YouTube in den Kanal „Too heavy to hike“
Ich finde deine Artikel so erfrischend ehrlich! Ja, ich weis, wie bequem die Couch sein kann, wenn man gezwungenermaßen im Deuter Zelt Fachhandel einkauft! Wanderhosen in ihrer Größe? Höchstens (!) in der Männerabteilung… Etc. Was für ein Horror! Du gehst auf REHA nach einer Bandscheiben-OP (nein, die wurde nicht durchs Übergewicht nötig!), andere Menschen in schicken Sportklamotten die mich anstarren, weil ich in ausgebeulten Gammelhosen und unförmigen TShirts versuche, wieder Schritt für Schritt zu laufen zu lernen. Grässlich…. Muckibuden Folter…. Nicht die Geräte! Die Blicke der anderen! Ach, lassen wir das. REHA überlebt, immer noch Gefühlsstörungen in dem Beinen, aber sie tragen mich tagtäglich Schritt für Schritt durch meinen Berufsalltag als Bedienung und Zeitungszustellerin. Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie einfach mal aussprechen, was dickere Menschen, die aber durchaus körperlich fit sind, auch wenn sie nicht den Werbungs-Model-Maßen, entsprechen, beim Klamottenkaufen durchmachen müssen! DANKE. Alles gute Ihnen weiterhin. Wann dürfen wir Ihnen bei einem Marathon zujubeln?
Danke dir! 🙏🏻 Ob es jemals zu einem Marathon kommt, weiß ich noch nicht 😁
Oh wie schön zu lesen!! Ich habe mich für den Halbmarathon 2023 in Berlin angemeldet und ehrlich gesagt keine Ahnung ob ich das tatsächlich schaffe. Deine Worte machen mit Mut und ich werd weiter fleißig trainieren! Vielleicht sehen wir uns ja nächstes Jahr und laufen gemeinsam vor dem Kehrfahrzeug. 😃
Wie cool! Ganz viel Spaß beim Training 🙂